Atalanta – Curva Nord – Bocia

Der Filmverleih Rotzfrech Cinema zeigt zusammen mit Erlebnis Fussball seit einiger Zeit den Film A Guardia Di Una Fede deutschlandweit im Kino.

Der Film zeichnet anhand des Lebens und den Erzählungen von Claudio „Bocia“ Galimberti, dem langjährigen Anführer der Curva Nord Bergamo, die Geschichte der dortigen Ultrabewegung nach, einschließlich der absurden Repressionen mit der diese zu kämpfen hat.

In Italien kam der Film bereits 2023 in die Kinos. Im selben Jahr erschien auf ultimouomo.com ein Artikel von Patrizio Bati, der ebenfalls mit Bocia gesprochen hat.

Anstatt das Gesagte jedoch als Interview zu veröffentlichen, erzählt Bati aus der Ich-Perspektive einige Anekdoten aus Bocias Leben nach, ähnlich wie in einem Buch.

Es folgt eine deutsche Übersetzung des kompletten Textes. Auch einige der im Film erwähnten Ereignisse finden sich hier wieder.

Das Leben des Bocia

1988, Catanzaro – Atalanta

Im Leben kommt es darauf an, die Dinge zur richtigen Zeit zu tun. Hätte ich ihn unter anderen Umständen darum gebeten, hätte mein Vater mir niemals die Erlaubnis erteilt, Atalanta nach Catanzaro zu begleiten… einen Tag vor der Prüfung für die achte Klasse.

Aber ich habe ihm die Frage während des EM-Finales gestellt, unmittelbar nach dem unglaublichen Schuss, mit dem Van Basten den russischen Torhüter Dasaev geschlagen hat, eines der besten Tore in der Geschichte des Fußballs.

“Vai, vai. Geh mir nicht auf den Sack”, antwortet er und übertraf dabei sogar Bruno Pizzul.

Vorletztes Meisterschaftsspiel.

Atalanta Dritter, Catanzaro Vierter: entscheidendes Duell um den Aufstieg in die Serie A.

Treffen am Samstagnachmittag im Piper, der Stammkneipe der Brigate Neroazzurre. Wir sind zu elft.

19 Uhr. Bahnhof Bergamo: Regionalzug nach Mailand.

20 Uhr. Bahnhof Mailand: direkt nach Lamezia Terme.

Jeden Sonntag wird Italien von Karawanen von Fans durchquert.

In Parma treffen wir auf die Bolognesi. In Rom die Laziali. Am Bahnhof von Campi Flegrei, wo ein Schaden an der Lok uns zu einem außerplanmäßigen Halt zwingt, treffen wir tausende Reggini auf dem Weg nach Perugia zum Playoff gegen Virescit Boccaleone, der zweiten Mannschaft aus Bergamo.

Es ist heiß. Wir gehen die Treppe hinunter. Sie bemerken unsere Schals. Mehr als fünfzig von ihnen versammeln sich und kommen auf uns zu.

Il Bimbo [das Kind, Anm. d. Übers.]! So nennen wir die Zaunfahne der Gruppe. Zum Glück ist Il Bimbo in Giorgios Rucksack sicher, eins achtzig groß, LKW-Fahrer, unser zuverlässigster Freund.

Wir schließen die Reihen, bereit, uns ihnen zu stellen. Sie sind bereit, uns zu jagen, aber schrecken fast zurück, als sie sehen, dass wir nicht zurückweichen. Schneller Austausch von Gürteln und Schlägen. Durch das Eintreffen von Verstärkung wächst das Missverhältnis zwischen den beiden Gruppen so sehr, dass wir – ohne ihnen jemals den Rücken zuzuwenden – Deckung in einer Unterführung suchen. Wir warten am Fuße der Treppe auf sie. Allerdings kommt keiner der Reggini runter, um sich uns entgegenzustellen.

Bahnhof Lamezia Terme: Als wir mit dem Regionalzug nach Catanzaro fahren, treffen wir auf etwa dreißig Leute von Wild Kaos, eine weitere Gruppe aus der Atalanta-Kurve. Absurd, dass wir nicht alle gemeinsam gestartet sind… aber es sind Jahre, in denen sich leider jede Gruppe wie eine eigenständige Einheit verhält und dafür die Vision einer geeinten Anhängerschaft aufgibt.

Bei uns sind auch drei Ultras aus Cosenza, denen wir durch gegenseitigen Respekt verbunden sind, der bis in die Zeit von Pater Fedele zurückreicht (historischer Fan der Rossoblu-Kurve und Organisator des ersten Treffens italienischer Ultragruppen nach der Tragödie von Heysel).

In einem vom Präfekten geschickten Bus – begleitet von nur einem Streifenwagen – durchqueren vierzehn von uns das Zentrum von Catanzaro. Die Türen stehen weit offen, um auf den ersten Steinwurf zu reagieren.

Sobald wir den Stadioneingang passiert haben, spricht uns eine Delegation gegnerischer Fans von draußen an.

Der Zaun übernimmt die Funktion des Trenngitters in einem Beichtstuhl.

Sie wollen die Cosentini.

Den Teufel werden wir tun. Wir sind jetzt Brüder.

2 zu 0 für Catanzaro. Die Serie A wird am letzten Spieltag ausgetragen.

Während ich mich an das Spiel fast gar nicht mehr erinnere, prägt sich von dem Moment an, als wir wieder in den Bus steigen, jedes Bild in mein Gedächtnis ein, jedes einzelne Bild der steilen und kurvenreichen Straße, die vom Stadion zum Bahnhof führt, jede Beleidigung, jede Geste, jeder Stein, geworfen von der Dunkelheit geschützten Händen, sogar eine Blumenvase.

Während meine Klassenkameraden, die mit ihrer Prüfung für die achte Klasse kämpfen, gehorsam ihren Aufsatz über die Tschernobyl-Wolke schreiben, sitzen ich und die anderen zehn Atalantini noch im Zug, der uns von Lamezia zurück nach Mailand bringt.

In jenem Jahr, 1988, werde ich der Einzige in der Klasse B sein, der sitzen bleibt.

1988, Sporting Lissabon – Atalanta

Die Reise nach Catanzaro war nicht mein erstes Auswärtsspiel.

Mein Vater, Mittelstürmer in der Primavera [U20 Jungendmannschaft, Anm. d. Übers.] von Atalanta, hat die Meisterschaft ’49 gewonnen.

Unser Haus war nur wenige Gehminuten vom Stadion entfernt.

Auf der Allee, die entlang der Tribüne verläuft, hat mir meine Mutter das Fahrradfahren beigebracht.

Mein Onkel (Dauerkarteninhaber in der Curva Nord) hat mich – seit ich im Kindergarten war – zu den Spielen mitgenommen.

…kurz gesagt, ich war dafür bestimmt.

Schon in der Grundschule habe ich davon geträumt, meiner Mannschaft auch bei Auswärtsspielen zu folgen. Ich leide wie ein Verliebter, der gezwungen ist, seine Freundin nur alle zwei Wochen zu sehen.

Als Schüler der Mittelstufe (Viertelfinale des Pokals der Pokalsieger: Sporting Lissabon – Atalanta) kann ich es nicht mehr ertragen, vom Wohnzimmer-Sofa aus zu jubeln.

Auf mein Drängen hin willigt mein Vater ein, mich in die Bar der Brigate Neroazzurre zu bringen. Ich bin vierzehn Jahre alt. Um einen Personalausweis zu bekommen, muss man fünfzehn sein. Ich kann nur in Begleitung eines Familienmitglieds oder eines Vormunds nach Lissabon fahren.

Ich muss sofort jemanden finden, der bereit ist, mich zu begleiten.

Glücklicherweise trifft mein Vater, während wir noch im Lokal sind, einen ehemaligen Primavera-Teamkollegen, Vater von Umberto, ein 25-jähriger Ultra. Der Junge, der bereits für die Reise bezahlt hat, übernimmt die Verantwortung für meine erste Auslandsreise.

Umarmungen, Erinnerungen, ein paar Bierchen. Mein Vater ist überzeugt.

Am Abend der Abreise, Treffen um Mitternacht im Piper. An diesem Sonntag spielt Atalanta in San Benedetto. Wir warten auf die vier Heimkehrer von der Auswärtsfahrt in die Marken und steigen in den Bus.

Die Nacht vergeht vor den Fenstern, italienische Lichter, dann französische, dann spanische. Portugal.

Spiel. 1 zu 1, Tor von Cantarutti, wir sind im Halbfinale!

Feiern mit dem Team im Sheraton Lissabon: Umarmungen, Gesänge, Champagnerflaschen.

Rückfahrt. Halt in Barcelona. Vier Stunden Zeit, um die Stadt zu besichtigen. Ramblas, Drogen, Restaurants, Tapas, Huren, jeder geht seinen Weg.

Als wir zum Parkplatz zurückkehren, ist die Tür aufgebrochen und der Bus ausgeraubt. Jacken, Kameras, 3 Millionen, die der Fahrer unter seinem Sitz versteckt hat, sogar die Trikots, die uns die Spieler geschenkt haben, sind verschwunden.

“Italiani Cabrones! Hijos de puta!”

Eine kleine Gruppe von Jungs auf Rollern fängt an, uns zu beleidigen. Fünfzehn Tage vorher (Espanyol – Mailand) haben Milanisti hier in Barcelona drei Spanier abgestochen.

Da wir wegen des Diebstahls sauer sind, greifen wir sie an. Schlägerei. Ein Polizist, der eingreift, um uns zu trennen, geht zu Boden, traktiert von italienisch-spanischen Tritten. Umringt von der Polizei werden wir stundenlang auf dem Parkplatz festgehalten (für zwei von uns, die festgenommen wurden, verlängert sich der Aufenthalt auf iberischem Boden um einige Tage).

Vorbei an einem wütenden Mob, der gegen uns wettert und alles nach uns wirft, verlassen wir um Mitternacht die Stadt in Begleitung von zehn Mannschaftswagen, die uns zur Autobahn begleiten.

1988, Mechelen – Atalanta

Halbfinale im Pokal der Pokalsieger. Ich möchte auch dieses Mal wieder dabei sein, aber für Umberto ist eine dreitägige Reise zu lang, und er beschließt, mit dem Flugzeug anzureisen. Ich muss eine andere Lösung finden.

Eine Karawane mit fünfzig Bussen. Für die Zollbeamten ist es unmöglich, gründliche Kontrollen durchzuführen. Wir schmieden einen Plan.

Fünf Kilometer vor jeder Grenze hält der Bus an und ich verschwinde. Fünf Kilometer später hält der Bus erneut, und ich tauche wieder auf. So werde ich alle Grenzen überqueren: Kofferraum, Adidas Reisetasche, zehn Zentimeter geöffneter Reißverschluss, damit ich atmen kann.

Zwischen Meisterschaft und Pokal bin ich fast nie zu Hause. Meine Eltern machen sich langsam wirklich Sorgen. Die Tatsache, dass ihr vierzehnjähriger Sohn mit einigen aufgedrehten Dreißigjährigen durch Europa reist, trägt sicher nicht zur Entspannung bei. Mittlerweile verbringe ich meine Vormittage, Nachmittage und Abende – mit meinen Freunden – in der Bar der Brigate (die – je nach Tageszeit – auch von anderer Kundschaft besucht wird). Morgens: Alte Männer, die Karten spielen und Schulschwänzer. Mittagessen: Büroangestellte und Bauarbeiter. Nachmittags: Alte Männer, die Karten spielen und Mütter, die mit ihren Kindern ein Eis essen gehen. Abends: Alte Männer, die Karten spielen und Junkies, die auf Nachschub warten. Innerhalb weniger Monate sind die Drogen auch in unsere Gruppe eingedrungen.

Am Nachmittag der Beerdigung von einem von uns, der an einer Überdosis gestorben ist, befand ich mich, immer noch vierzehn Jahre alt, im Auto mit drei Jungen, die ich kannte, wenn auch nicht sehr gut. Als wir Richtung Kirche fahren, hält das Auto auf dem Bahnhofsvorplatz. Der Fahrer holt eine Schnürsenkel und eine Spritze heraus, die er wie einen Joint herumreicht. Als ich an der Reihe bin, frage ich mich besorgt, wie ich mich rausreden kann, aber zum Glück haben sie das Gefühl, mich beschützen zu müssen, da ich noch ein Kind bin.

1990, Italien – England

Ausschluss aller britischen Teams aus europäischen Wettbewerben für fünf Jahre: eine der Anti-Hooligan-Maßnahmen, die von Thatcher nach den Todesfällen von Heysel eingeführt wurden.

Mit der Fussballweltmeisterschaft 1990 kehrten die englischen Fans auf die internationale Bühne zurück. Das erste Mal nach Jahren des Verbots.

Gespannt darauf, sie am Werk zu sehen, sind wir von den Brigaden bereit, nach Rom aufzubrechen – wo das Finale ausgetragen wird – bei dem England auf dem besten Weg zu sein scheint, teilzunehmen. Und das alles ganz ohne Ticket.

Wie die Hauptstadt von wilden Horden betrunkener Hooligans überfallen wird, ist ein Spektakel, das wir uns nicht entgehen lassen wollen.

Entgegen aller Erwartungen muss England, das im Halbfinale Deutschland unterliegt, statt in Rom in Bari antreten, wo man im Spiel um Platz drei auf Italien trifft (das in Neapel von Caniggia und Maradonas Argentinien besiegt wurde).

Bergamo – Bari: beinahe tausend Kilometer. Meine Freunde machen einen Rückzieher, ich beschließe, trotzdem zu fahren. Schlägereien und Handgemenge in allen italienischen Städten, die von den Briten durchquert werden, lassen vermuten, dass die Spur der Verwüstung auch Apulien nicht verschonen wird. Das darf ich nicht verpassen.

Nachtzug, Ankunft in Bari am Morgen. Ich erkunde das Bahnhofsgelände und die angrenzenden Wege. Leere Straßen, eine Atmosphäre wie vor einem drohenden Unheil.

Ich steige in einen Bus Richtung San Nicola. Eine weitere Erkundung, diesmal stundenlang. Asphalt. Sonne.

Ein Roller fährt neben mir her, während ich zwischen den Häusern umherschlendere. Zwei Bari-Fans. Überzeugt davon, dass ich Engländer bin, möchten sie ihren rot-weißen Schal gegen mein “English Clan BNA”-T-Shirt tauschen. BNA steht für Brigate Neroazzurre. “Ich komme aus Bergamo”, erkläre ich. Der Roller fährt weiter. Ich bin wieder allein. Auf und ab. Ich begutachte alles, die Schrift an den Wänden, die Schatten hinter den Fensterläden. Ich kontrolliere sogar die Mülltonnen (die oft als Versteck von Waffen und Knüppeln verwendet werden).

Angekündigt von Blaulichtern und Helikopter, da ist der Corteo [hierzulande auch gerne als „Marsch“ bezeichnet, Anm. d. Übers.] der Engländer.

Ich sehe sie aus einer Straßen auftauchen, deren Namen ich mir inzwischen von den Gegensprechanlagen gemerkt habe. Ich halte Abstand und begleite die vierhundertköpfige Gruppe bis zu den Toren des für sie reservierten Sektors. In dem Moment, in dem sie beginnen hineinzugehen, ziehe ich aus der Tasche meiner Jeansjacke eine englische Flagge, die ich in einen Umhang verwandle, der mich zu einem perfekt getarnten Chamäleon macht, sodass es mir gelingt den am Eingang aufgestellten Filter (Sieb) ohne Ticket zu passieren.

West Ham-, Arsenal- und Tottenham-Fans … meine Idole. Das Spielfeld ist mir egal, meine ganze Aufmerksamkeit gilt ihnen. Fahnen, Tätowierungen, Gesänge.

Die Partie vergeht schnell, so wie immer, wenn Atalanta nicht mitspielt.

Um nicht bis zum späten Abend mit meinen neuen Landsleuten eingesperrt zu sein, verlasse ich die Kurve einige Minuten vor Spielende. Die Fahne in der Tasche, den Ausweis in der Hand und im bergamasker Dialekt fluchend, überzeuge ich die Polizisten schnell davon, dass ich kein Engländer bin und verlasse in aller Ruhe das Stadion. Als ich am Bahnhof ankomme, stelle ich verärgert fest, dass der erste Zug nach Mailand erst vier Stunden später fahren würde.

Ich bin sehr müde, ich versuche, mich auf einer Bank hinzulegen, aber ich kann nicht schlafen. Alternative Lösungen: Trampen… Autodiebstahl… Busentführung…

Eine Durchsage lenkt mich davon ab, mögliche Straftaten zu begehen.

Abfahrt von Gleis 8: Sonderzug nach Mailand, ausschließlich für britische Fans.

Ich sehe schon die ersten ankommen. Aus meiner Jackentasche erscheint wieder meine englische Flagge, die mir ein zweites Mal hilft, mich unter sie zu mischen.

An den Fenstern rasen die blauen Bahnhofsschilder vorbei. In Rimini nutzen meine ehemaligen Landsleute die geöffneten Türen, um in Scharen auszusteigen (maximal siebzig bleiben noch im Zug).

Bilanz: zwei zerstörte Kneipen, 280 Hooligans festgenommen und ausgewiesen, 53 Verletzte.

Jetzt, wo wir nur noch wenige sind, fühle ich mich irgendwie dafür verantwortlich die Gruppe zu repräsentieren, mit der ich Stadion und Reise geteilt habe, stolz darauf, den inzwischen halbleeren und kahlen Zug mit einer Fahne zu schmücken, um allen an denen wir vorbeikommen, zu zeigen mit wem wir es halten.

Ich hänge die englische Flagge aus dem Fenster.

1992, Mailand – Atalanta

Bergamaschi gegen die Polizei: Minuten des Kampfes. Auf die Bitte einiger Atalanta-Anhänger (normale Fans, keine Ultras wie wir), zehn Minuten vor Schluss gehen zu dürfen, reagieren die Beamten mit Schlagstöcken.

Nach den Zusammenstößen in Mailand erhielt ich mein erstes Stadionverbot [die Rede ist hier von “Diffida”, einer bestimmten Form des Stadionverbots in Italien, Anm. d. Übers.]. Es sind schwierige Jahre für unsere Kurve, nach den triumphalen Jahren von Mondonico und dem Abenteuer im Pokal der Pokalsieger. Es ist, als ob auf dem Höhepunkt nicht nur die Mannschaft, sondern auch die Fans traurigerweise auseinanderbrechen. Ich tue, was ich kann, um die Kurve zusammenzuhalten, ich nehme an sämtlichen Meetings teil, ich organisiere die Auswärtsfahrten, ich arbeite Tag und Nacht an Choreografien und Spruchbändern. Der Tod von Celestino Colombi, einem schwarz-blauen Fan, der nach dem Spiel Atalanta-Roma bei einer Polizeikontrolle einen Herzinfarkt erleidet, ist ein weiterer Schritt in die Spirale, die uns weiter nach unten zieht. Entweder wir unternehmen ernsthafte Anstrengungen, um uns neu zu organisieren, oder wir laufen Gefahr, in der Konfrontation mit größeren und besser strukturierten Anhängerschaften jedes Mal zu erliegen. In den Schulen von Bergamo halten es weniger als ein Drittel der Kinder mit Atalanta. Die anderen verteilen sich auf Juve, Milan und Inter. Unsere Kurve leidet unter dem ausbleibenden Generationswechsel.

Ich erhöhe meine Anstrengungen, wobei es mir nach einiger Zeit gelingt, die Gruppen der Nordkurve zu vereinen, das dumme Fahnen Sektierertum zu überwinden, das uns zu lange benachteiligt hat, und dafür zu sorgen, dass wir von nun an alle gemeinsam zu Auswärtsspielen fahren. Bewusstheit ist entscheidend, die Bewusstheit, eine Stadt zu repräsentieren und dasselbe kulturelle Erbe zu teilen.

Wenn du einer von uns sein willst, solltest du wissen, dass die Mauern von Bergamo venezianisch und nicht römisch sind… Du solltest wissen, dass das weltberühmte Eis mit Stracciatella-Geschmack 1961 von Enrico Panattoni, dem Besitzer des Restaurants “La Marianna”, erfunden wurde… Du solltest wissen, dass Atalanta der Name einer mythischen Jägerin war, der einzigen Frau, die an der Expedition der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies teilnahm.

Der gemeinsame Wissensschatz wird dazu beitragen, zusammenzurücken und uns zu einer Gemeinde machen, die bereit ist, ihre Straßen vor der Invasion anderer Anhängerschaften zu verteidigen.

Wenn du nach Bergamo kommst, vorbei an der Mautstelle, musst du das Gefühl haben, dass dies nicht dein Zuhause ist… du musst das Gefühl haben, dass wir dich beobachten… du musst das Gefühl haben, dass dir jeden Moment etwas zustoßen kann.

Meine Mission, unsere Mission, ist die Suche nach neuen Anhängern, um den Kult der Göttin [“Dea”, auch als Bezeichnung für den Verein verwendet, Anm. d. Übers.] zu verbreiten. Aufkleber, Poster, Wimpel, jedes Mittel ist recht. Mauern, Kühlschränke, Lichtmasten: jede Fläche.

Unsere Armee wird immer größer. Meine Liebe zu Atalanta ist, wenn auch unbezahlt, mittlerweile ein Vollzeitjob.

1996, Florenz – Atalanta

Vor jedem Auswärtsspiel führe ich (normalerweise donnerstags) eine gründliche Inspektion der Stadt durch, wo wir spielen werden. Im Gegensatz zu meiner ersten Inspektion (Bari, Weltmeisterschaft 1990) gehe ich jetzt – in der Regel – in Begleitung von zwei anderen aus der Gruppe und immer ausgestattet mit einem Notizbuch für Stichpunkte.

Wir kundschaften das Bahnhofsgelände und das Stadiongelände aus. Straßen, Plätze, Züge und Busse. Wir wollen die Heimfans jedes Mal überraschen.

Der eigentliche Wendepunkt kam beim Auswärtsspiel gegen die Viola.

Inspektion am Donnerstag. Wir sind zu zweit. In Prato steigen wir in den Zug nach Florenz.

Bei herabgelassenen Fenster studieren wir jeden Meter der Strecke. Während der Fahrt bemerken wir einen großen Platz, der nur durch eine niedrige Ziegelmauer und ein leicht zu überwindendes Tor von den Gleisen getrennt ist.

Als wir am Bahnhof Campo di Marte ankommen (der am nächsten zum Stadion liegt und auf den die Polizei warten wird, um uns am Spieltag zu eskortieren), stellen wir fest, dass dieser Platz nur zwei Kilometer davon entfernt ist. Hochkonzentriert laufen wir sie ab. Sobald wir das Tor erreicht haben, durchstreifen wir die Gegend auf der Suche nach dem besten Weg, um zum Stadion zu gelangen. Nach zwei Stunden nehmen wir wieder den Regionalzug zurück von Florenz nach Prato.

Zeit für ein Bier und wir steigen erneut in den Zug von Prato nach Florenz ein.

Unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit des Zuges und der Zeit, die er bis zum Halt braucht, ziehe ich die Notbremse.

Perfekter Plan: Der Konvoi hält wenige Meter vor dem Tor. Wir haben nun einen klaren Aktionsplan, den wir am Spieltag umsetzen wollen.

2. Mai 1996

Schon beim Einsteigen in den Zug wissen die tausend Atalanta-Fans, dass es vor dem Campo di Marte einen “besonderen” Halt geben wird.

Ich sitze in Wagen 1, damit ich schnell aussteigen und den Zug zurück entlang gehen kann, um die anderen zusammenzutrommeln und an der Spitze des Corteo durch das Tor zu gehen.

Wir wissen nicht, wie viele uns folgen werden.

Ungeachtet der Anzahl werden wir, auch wenn wir zu zehnt wären, ohne Begleitung durch die Straßen von Florenz ziehen. Ab Bologna stehe ich auf und gehe den Waggon auf und ab, um mich auf die Aktion vorzubereiten.

Zum verabredeten Zeitpunkt ziehe ich die Notbremse. Bevor der Zug vollständig zum Stehen kommt, stoße ich die Türen auf und springe zu Boden. Auch aus den anderen Waggons strömen Atalantini. Vierhundert Menschen stürmen den Platz. Zeit, sich neu zu formieren und unser langer Marsch beginnt.

Die nächstgelegenen Polizisten schauen machtlos aus dem Hubschrauber zu, der über das Gelände fliegt.

Überrascht fahren die Florentiner Späher auf Mofas los, um die anderen zu warnen. Wir steuern die gegnerische Kurve an. Plötzlich taucht vor uns ein violetter Horizont auf, bereit zum Gegenschlag. Beginn der Auseinandersetzungen. In einem wirren, wechselseitigen Strom aus Flaschen, Fäusten, Rauchbomben und Gürteln.

Zehn Jahre später, 2005, reist Atalanta als abstiegsgefährdeter Tabellenletzter nach Florenz.

Notbremsung vor Campo di Marte, der Zug hält auf Höhe des Platzes. Eine Flut von neroazzurri Fans auf den Gleisen.

Wir sind tausende, genau wie beim ersten Mal, aber heute sind wir alle aus dem Zug gestiegen.

In den folgenden Wochen bestätigt sich mir, dass sich etwas ändert: spektakuläre Choreografien, ohrenbetäubende Gesänge, kompakte Aufstellung, immer volle Züge und Busse…

Vorbei sind die Zeiten der Auswärtsfahrten, bei denen wir mit elf Personen angetreten sind.

Inzwischen haben wir das Vertrauen der Menschen gewonnen und aufgrund dieser Glaubwürdigkeit beginnen wir über eine große, beliebte Veranstaltung nachzudenken… nicht nur für die Fans, sondern auch für diejenigen in Bergamo, die sich nicht für Fußball interessieren. So entstand das “Festa della Dea” [Fest der Göttin, Anm. d. Übers.].

Erste Auflage 2003, begrenzte Mittel: Bühne in der Größe eines Couchtisches, vom Alpenverein geliehener Stand, Biertheke mit nur zwei Zapfhähnen. Doch es war bereits am Eröffnungsabend ein außergewöhnlicher Erfolg, tausende Menschen, tausende Becher. Im Laufe der Jahre wuchs die Veranstaltung sprunghaft an und hat sich zum idealen Sprachrohr für all unsere Initiativen entwickelt. Wir sammeln Spenden für die vom Erdbeben betroffene Bevölkerung. Um L’Aquila Rugby zu helfen, kaufen wir sogar einen Anteil des Gesellschaftskapitals. Wir begrüßen Fulvio Gambirasio auf der Bühne (den Vater von Yara, dem 2010 ermordeten Mädchen), der fünf Jahre des Schweigens unterbricht und unser Fest auswählt, um den von ihm gegründeten Verein offiziell vorzustellen, der Kindern aus bedürftigen Familien Stipendien anbietet, damit sie ihre Träume verwirklichen können.

Aber in den Zeitungen sind das nur Kurznachrichten. Beim “Festa della Dea” 2013 ist es die Meldung, dass ein Panzer zwei in den Farben von Brescia und Roma lackierte Autos unter seinen Ketten zermalmt hat. Beunruhigender Vorfall, Aufstachelung zur Gewalt, untragbare Provokation, verhaftet diese Verbrecher, schreiben alle. Es ist ein Scherz, ein Schabernack, eine Spielerei, antworten wir… aber das schreibt niemand.

2009, Albinoleffe – Empoli

Fünf Uhr morgens. Türklingel. Vielleicht träume ich. Wieder die Türklingel.

Gerade noch den Kopf vom Kissen gehoben, stehe ich auf und gehe zur Tür. Türspion: DIGOS [Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali, Sondereinheit der italienischen Staatspolizei, Anm. d. Übers.]. Sie verhaften mich.

Ich stehe bereits sechs Monate unter besonderer Beobachtung [gemeint ist hier “sorveglianza speciale”, eine Präventionsmaßnahme zu besonderen Überwachung der öffentlichen Sicherheit, Anm. d. Übers.]: Entzug meines Führerscheins, tägliche Unterzeichnungspflicht bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle, Vorschriften in Bezug auf Orte, Zeiten und Anwesenheitspflichten… nahezu keine Freiheit.

Erster Stock, drittes Zimmer rechts. Ein Wachtmeister erbarmt sich schließlich es mir zu erklären: Verstoß gegen das DASPO [Divieto di Accedere alle manifestazioni SPOrtive, das italienische Pendant zum Stadionverbot, Anm. d. Übers.].

Am Tag des Spiels Albinoleffe – Empoli wurde ich in der Bar im Stadion gesehen.

Ich versuche, mich zu verteidigen. Ich war nur gekommen, um wie jedes Jahr den Mädchen, die dort arbeiten, Weihnachtssterne zu schenken… und Atalanta hat an diesem Tag nicht einmal gespielt…

Das sind mildernde Umstände, die der Richter sicherlich berücksichtigen wird. Der Richter ignoriert sie: sechs Monate Hausarrest, danach muss ich noch die restliche Zeit der Sonderüberwachung verbüßen.

Meine Bewegungsfreiheit beschränkt sich gerade mal auf die Strecke zwischen meinem Zuhause und der Polizeistation.

Es ist unmöglich, weiter zu arbeiten. Ich lebe in einer Stadt, in der mich alles an Atalanta erinnert.

Eine Alternative bot sich mir durch den Anruf eines befreundeten Gastronomen, der in den Marken lebt.

Er braucht Hilfe in der Küche. Ich kann zu ihm nach Marotta kommen, einem kleinen Küstenort in der Provinz Pesaro, und für eine Weile zur Ruhe kommen.

Hauptbahnhof. Ich steige in den Zug Mailand – Bari. Die Stationen vieler Reisen ziehen vor den Fenstern vorbei, die tausende von Städten, die man zu Fuß mit oder ohne Polizeischutz durchquert hat. In der Stille der menschenleeren Straßen, die am Sonntagmorgen von unseren Gesängen entweiht wurden.

Sie haben mir Atalanta weggenommen. Ich, der ich sie über meine Eltern, meine Freundinnen, meinen Job und alles andere gestellt habe…

Ich habe an Kämpfen teilgenommen und Hinterhalte erlebt.

Immer zur Ehre meiner Mannschaft und meiner Stadt. Immer mit Respekt vor den gegnerischen Fans.

Ich habe nie einen am Boden liegenden Mann geschlagen, nie ein Messer benutzt, nie Geld mit meiner Leidenschaft verdient.

Auf der Flucht vor einer Vergangenheit, die mich nicht geschont hat, befinde ich mich nun auf den gleichen Gleisen, die mich – 17 Jahre alt, mit jungenhaftem Gesicht – 1990 nach Bari geführt haben.

Mein erwachsenes Gesicht, interferiert mit dem Meer vor dem Fenster, geht in die zweite Hälfte meines Lebens über… das noch alles bereithält.


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